Lebenswert betreut? Wie werden Gesundheitsorganisationen vom Teil des Problems zum Teil der Heilung?

2025-06-22 14:24:00

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Pflege- und Gesundheitsorganisationen haben den Auftrag, Menschen zu unterstützen – in Krankheit, im Altern, in Zeiten eingeschränkter Selbstständigkeit. Doch in der alltäglichen Praxis wird dieser Anspruch nicht selten durch Strukturen und Abläufe konterkariert, die Autonomie beschränken, Beziehung erschweren oder zur Passivierung beitragen. Diese Spannungen begegnen mir seit vielen Jahren – sowohl in der supervisorischen Begleitung von Teams als auch in der gerontologischen Einzelbegleitung. In beiden Rollen erlebe ich immer wieder, wie stark professionelle Haltung, institutionelle Kultur und konkrete Alltagsgestaltung miteinander verwoben sind – und wie sehr das System selbst Einfluss darauf nimmt, ob Menschen sich gesehen und angesprochen fühlen oder nicht. Meine Erfahrung: Überregulierung und Beziehungsarmut sind vielerorts strukturell wahrscheinlicher anzutreffen als wirkliche Wahrnehmung, Begegnung und Beziehungsarbeit. Das geschieht nicht aus bösem Willen – aber doch mit spürbaren Folgen. Die Frage stellt sich deshalb ganz konkret: Wie kommt es, dass Einrichtungen, die helfen sollen, mitunter Bedingungen schaffen, die genau das Gegenteil bewirken? Ergänzend zu meinen Hypothesen aus der laufenden teilnehmenden Beobachtung möchte ich im Folgenden einige Konzepte aus Philosophie, Psychologie und Sozialforschung als Erklärungsversuche für solche als hinderlich empfundenen Phänomene mit einbringen – aber auch Ansätze, die gezielt Ressourcen und gelingende Praxis ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Foucault: Disziplinierung unter dem Deckmantel der Fürsorge Michel Foucault analysierte in „Die Geburt der Klinik“ (1973) und „Überwachen und Strafen“ (1975), wie moderne Institutionen nicht nur Orte der Versorgung sind, sondern auch Räume der Kontrolle. Was als Fürsorge erscheint, ist zugleich eine Technologie der Macht: Sichtbarmachen, Klassifizieren, Normieren. Gesundheitsorganisationen arbeiten mit Zeitrastern, Akten, Routinen, Dokumentationen – oft aus nachvollziehbaren Gründen. Doch diese Logiken können zu einem Verlust individueller Perspektiven führen. Menschen werden dann nicht mehr als Subjekte, sondern als Verwaltungseinheiten wahrgenommen. Menzies Lyth: Strukturen als Schutz vor Überforderung – mit Nebenwirkungen Isabel Menzies Lyth zeigte 1959 anhand einer Krankenhausstudie, wie Organisationen Strukturen als Schutzmechanismen entwickeln: Routinen, klare Zuständigkeiten, funktionale Distanz. Diese sollen Mitarbeitende vor emotionaler Überforderung bewahren. Was kurzfristig entlastet, hat langfristig problematische Nebenwirkungen: Beziehung wird erschwert, Mitgestaltung blockiert, Subjektivität ausgeblendet. Die Organisation schützt sich selbst – und verliert dabei den Bezug zur individuellen Lebenswirklichkeit der Menschen, die sie begleiten soll. Bion: Wenn Gruppen sich selbst blockieren Wilfred Bion beschrieb in „Experiences in Groups“ (1961), wie Gruppen unter Druck in unbewusste Grundmuster verfallen: Abhängigkeit, Fluchtverhalten oder Idealisierung einzelner Rollen. In Organisationen zeigt sich das z.B. in lähmender Zuständigkeitsteilung, interner Konfliktvermeidung oder einem hohen Maß an Misstrauen. Diese Reaktionen wirken stabilisierend – verhindern aber oft genau das, was Organisationen eigentlich brauchen: gemeinsame Verantwortung, kreative Lösungsfindung und Veränderungsbereitschaft. Anne-Mei The: Vielfalt und Beziehung als Ressource Die niederländische Pflegeforscherin Anne-Mei The weist in ihrer Analyse von Pflegeheimen darauf hin, dass Organisationen nicht nur durch Kontrolllogiken geprägt sind, sondern auch durch implizite Beziehungskulturen. Besonders dort, wo Diversität als Ressource gesehen und emotionale Beziehungspflege zugelassen wird, entstehen Räume für Menschlichkeit und Entwicklung. Sie betont: In Systemen, in denen kulturelle Diversität auf reflektierte Weise eingebunden wird und Frauen als Trägerinnen von Beziehungspraxis sichtbar gemacht werden, entstehen neue Möglichkeitsräume für Pflege, die verbindet statt vereinfacht. Unbeabsichtigte Regression als Systemeffekt Die beschriebene Struktur- und Gruppendynamik kann dazu führen, dass Organisationen unbeabsichtigt Rückschritte in der Entwicklung ihrer Mitglieder fördern: – Bewohner:innen erleben sich als passiv oder fremdbestimmt, – Mitarbeitende reduzieren ihre Rolle auf Routinehandlungen, – Leitungspersonen reagieren auf Unsicherheiten mit Kontrolle statt mit Dialog. Diese Muster entstehen nicht aus individueller Schwäche, sondern aus der Logik der Systeme selbst – und bleiben oft gerade deshalb unbemerkt. Langjährige Praxisbeobachtung: Entwicklung ist möglich – aber selten systematisch gewollt Aus über zwanzig Jahren Tätigkeit in der gerontologischen Einzelbegleitung kann ich sagen: Es gibt positive Beispiele. Doch sie sind selten – und meist an einzelne, persönlich engagierte Führungspersonen gebunden. Strukturell verankerte Bemühungen um Beziehungsqualität, Subjektstärkung und langfristige Reflexionskultur sind die Ausnahme. Woran liegt das? Hypothese: Hierarchisch-technokratische Leitungsmodelle und eine mangelnde psychosoziale Ausbildung, vor allem im medizinischen Bereich, verhindern eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Beziehungsdimension professionellen Handelns. Kitwood: Beziehung als zentrales Element von Pflege Der britische Psychologe Tom Kitwood entwickelte in den 1990er-Jahren ein Modell personenzentrierter Pflege, das bis heute relevant ist. Seine zentrale Aussage: „Personhood“ ist keine Eigenschaft, sondern eine soziale Erfahrung. Sie kann gestärkt oder beschädigt werden – je nachdem, wie wir miteinander umgehen. Kitwood forderte ein Pflegesystem, das nicht nur Defizite behandelt, sondern Beziehung gestaltet. Seine Analyse zeigte, wie oft institutionelle Abläufe unbeabsichtigt zur „Entpersonalisierung“ beitragen. Welche Rolle spielt professionelle Beziehungsarbeit? Professionelle Beziehungsarbeit hat in der empirischen Forschung nachweislich großen Einfluss auf den Erfolg von Betreuung und Pflege: – Pflegewissenschaft: Vertrauensvolle Beziehungen fördern Selbstbestimmung und Zufriedenheit. – Kitwood und Feil: Beobachtungsstudien zeigen bessere Lebensqualität und geringere Agitation. – Psychotherapie: Die therapeutische Allianz gilt als Hauptwirkfaktor in der Behandlung. – Kommunikationsforschung: Personenzentrierte Kommunikation mindert depressive Symptome und fördert Kooperation. Supervision als Möglichkeit zur Reflexion und Veränderung Supervision kann Räume öffnen, in denen nicht Lösungen versprochen, sondern Fragen ermöglicht werden – etwa: – Was wird in dieser Organisation gesehen – und was nicht? – Wie wirken Regeln und Routinen auf das Erleben der Beteiligten? – Was verhindert Beziehung – und wie ließe sich daran arbeiten? – Wie viel Unsicherheit darf im System sein – ohne dass es kollabiert? Ein notwendiger Perspektivwechsel Pflege- und Gesundheitsorganisationen stehen unter Druck – fachlich, finanziell, personell. Und doch wäre gerade jetzt der richtige Moment, neu zu fragen: Was heißt es eigentlich, eine „gute Einrichtung“ zu sein – gemessen nicht an Normen und Abläufen, sondern an der erlebbaren Qualität von Beziehung, Achtung und Beteiligung? Diese Frage zu stellen, ist unbequem – aber notwendig. Denn vielerorts wird zwar viel von Klientenzentrierung, Qualität oder Bedürfnisorientierung gesprochen, doch wenn man genauer hinsieht, ist oft etwas anderes gemeint: Auslastung, Öffentlichkeitswirkung, ökonomischer Erfolg und Risikominimierung. Solange diese Logiken das Handeln dominieren, bleiben die erstgenannten Qualitäts- und Beziehungsziele Worthülsen – sprachlich aufgewertet, praktisch grob vernachlässigt. Ich möchte gerne beitragen, Organisationen und Führungspersonen auf diesem Weg – wo er ehrlich angestrebt ist – zu begleiten. Weitere Informationen und Beiträge: 👉 Blog: https://www.alexander-popper.at/blog/ 👉 Supervision in Pflege & Betreuung: https://www.alexander-popper.at/pflege-betreuung.php